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November… Monat der Verstorbenen? Nein…

Von Mirella Pizzioli

An einem Septembermorgen spazierte ich friedlich am Meeresstrand. Ich bewunderte das schöne Blau des Himmels, ich sog den Duft des Meeres ein; es war ein wunderbar sonniger Tag und einige Schwimmer lagen auf dem warmen Sand.
Ich spürte, dass jemand meine rechte Hand berührte und sah, dass ein ungefähr fünfjähriges Kind neben mir stand und mich anlächelte. Es war beeindruckend schön mit seinem kleinen runden Gesicht, den großen Augen, deren Farbe ich nicht beschreiben kann, der vollendeten Nase und dem vollkommenen kleinen Mund. Seine Haare sind kastanienbraun und gekräuselt; sie fallen in großen Locken herab und sind sogar etwas lang; sie umspielen fast die Schultern.
Es trägt einen kleinen weißen Badeanzug und an seinem rechten Arm ist ein runder Schwimmflügel in einer etwas aus der Mode gekommenen Farbe.
Ich lächle es ebenfalls an… und zugleich fassen wir uns an den Händen.
Wir gehen gemeinsam am Strand entlang. Es hüpft, ist glücklich… Und ich? Ich spaziere am Meeresstrand entlang und halte die Hand eines kleinen Kindes, das niemand sieht, eines Kindes, das man in den fünfziger Jahren auf der Erde gesehen hätte.
«Warum bist du da, Schatz?»
«Ich warte auf meine Mama.»
«Und wo ist deine Mama?» Das schöne Kind antwortet mir nicht.
«Bist du alleine?» Der Kleine antwortet mir nicht…
«Willst du mit mir nach Hause gehen?»
«Ja, ja!»
«Sag mir: Wie heißt du?»
Seine Stimme ist ein Flüstern, ich glaube “Rudolf” verstanden zu haben.
Wir setzen unseren Spaziergang fort – ich schweigend und der kleine Rudolf führt Selbstgespräche wie es Kinder tun, die in ihrer Phantasie und in ihren Vorstellungen leben. Ich verstehe nicht, was er sagt und stelle ihm auch keine Fragen.
So unversehens wie er «erschienen» ist, verschwindet er auch wieder.
Meine Hand ist leer, ich schaue umher, er ist nicht mehr da. Es sind nur noch die üblichen Badegäste da, die auf ihren Liegen sind – gleichgültig gegenüber heiligen und realen Geschöpfen, von denen der kleine Rudolf eines ist.
Gegen 23.30 Uhr gehe ich zu Bett. Ich denke an Gott, ich denke an Maria, ich denke an Jesus, an die Engel, an meinen Vater, an meine Mutter und intuitiv wende ich mich von ganzem Herzen bittend an sie.
Auf einmal fühle und sehe ich Rudolf neben mir.
«Du bist zurück gekommen? Schatz, ich bin so glücklich, dich wieder zu sehen, ich dachte, du habest mich vergessen. Willst du bei mir Heia machen?»
Wie kann ich Ihnen seine Freude beschreiben? Wie kann ich Ihnen das strahlende, glückliche, leuchtende Gesicht eines heiligen Kindes beschreiben?
Und ich? Ich bin in meinem Bett und habe ein kleines, heiliges Kind des Himmels bei mir. Ich drücke es an mich. Seinen Körper spüre ich nicht wie einen Körper, aber ich spüre ihn trotzdem. Er hat seinen kleinen weißen Badeanzug an und an seinem rechten Arm ist ein kleiner runder, bunter Schwimmflügel.
Gemeinsam murmeln wir der Muttergottes viele Ave Maria.
Ich schlafe ein und …am nächsten Morgen ist kein Rudolf mehr da; ich sehe ihn nicht mehr.
Vielleicht ist seine Mutter gekommen und hat ihn geholt?

November, Monat der Verstorbenen…

An einem Nachmittag im Oktober gehe ich alleine eine sehr schöne Straße entlang, die von Bäumen gesäumt ist; die Blätter fallen. Die Straße ist sehr belebt, viele Menschen sind unterwegs, ich grüße einige, die ich kenne und ich halte an, um mit einer Freundin zu sprechen, die ihren kleinen Hund ausführt. Er wedelt fröhlich mit dem Schwanz…, bellt und will von mir gestreichelt werden…
Während ich mit meiner Freundin spreche… schaue ich auf eine Bank, die rechts in meiner Nähe ist. Ich bin überrascht, weil dort ganz allein ein Kind sitzt… Ich verabschiede mich sehr schnell von meiner Freundin und gehe zu der Bank, ohne mich zu setzen. Ich weiß nicht wie – wirklich, ich weiß nie, wieso mir diese Dinge widerfahren! – aber ich begreife, dass es ein «ungeborenes Kind» ist.
Mit den Augen meines Herzens streichele ich es und frage: «Was machst du da?». «Ich warte auf meine Mama, sie wird bald kommen».
Es trägt einen kleinen blauen Pulli; seine hellgraue Hose ist kurz, die Sandalen scheinen mir weiß zu sein. Ich verstehe, dass es nicht sprechen will und setze meinen Spaziergang fort. Aber jetzt ist alles etwas anders.
Von Zeit zu Zeit drehe ich mich um und solange ich die Bank sehe, sitzt das Kind noch immer dort, allein. Es wartet.
Ich spaziere ungefähr eine Stunde lang und beschließe dann, umzukehren.
Jetzt sitzt auf der Bank eine Frau, alleine; sie ist nicht mehr sehr jung. Ich kenne sie vom Sehen her; ich sehe sie oft im Supermarkt. Ich verlangsame meine Schritte und betrachte sie. Sie hat die Augen geschlossen und die Arme auf der Brust gekreuzt. Sie trägt einen blauen Pulli und einen hellgrauen Rock, ihre Schuhe sind hell. Beide sind auf dieselbe Weise gekleidet! Das kleine Kind auf der Bank ist neben ihr; sie sind einander ganz nahe; es legt seinen kleinen Kopf auf die linke Seite der Frau.
Wir schauen uns schweigend an. Sicher denkt diese Frau an ihr Kind… und ihr Kind ist neben ihr.
Das Herz der Mütter ist immer bei ihren Kindern; ungeteilt, wie das Herz von Maria ungeteilt bei ihrem Sohn ist.

November, Monat der Verstorbenen…

Folgendes hat sich vor kurzem ereignet:
Eine freundliche Dame saß vor meinem Büro; sie wollte mich besuchen, weil es ihr nicht sehr gut ging: «Mirella, man hat mir gesagt, dass du vielen hilfst, dass du betest… Wie du siehst bin ich alt, meine Gesundheit ist angeschlagen, ich habe eine schwere Operation hinter mir. Auch ich bete, deshalb bin ich gekommen…»
Der Herr erfüllte in seiner unendlichen Liebe mein Herz sofort mit Liebe. Sie war eine Mutter, eine Großmutter, ihr Leben war nicht leicht gewesen, ihr Gesicht hatte noch die Züge ihrer früheren großen Schönheit bewahrt. Ich sagte es ihr. Sie lächelte und seufzte: «Danke, ja, das ist wahr, aber die Zeit ist vergangen…»
Ich nahm das Buch, das Jesus mir vorschlug (ich habe viele Bücher in meinem Büro, aber es ist Jesus, der mich das Buch wählen lässt, das am besten zu den Anliegen der Person passt, die um Hilfe bittet; daher ist es immer Jesus, der es aussucht – das gilt auch für das Gebet; ich erflehe seine Barmherzigkeit mit den Worten, die er selbst vorschlägt, um von ihm die Gnade oder die erbetene Hilfe zu erlangen – es ist unglaublich!).
Während ich frage, sehe ich an den Schultern der Frau einen jungen Mann, der als Soldat gekleidet ist. Er trägt ein Gewehr an einem Schulterriemen. Es ist kein «moderner» Soldat. An seiner Uniform, seiner Soldatenmütze und seiner gesamten Kleidung erkenne ich, dass er ein Soldat aus dem Ersten Weltkrieg ist. Ich versuche, ihn zu ignorieren, aber das ist unmöglich; ich muss es sagen, ich muss es der vor mir sitzenden Frau sagen. Mit der Freundlichkeit und dem Feingefühl, um das ich mich immer bemühe, erzähle ich ihr, was ich sehe.
«Entschuldigen Sie, erinnern Sie sich, ob es in Ihrer Familie einen Soldaten gab, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat?»
«Warum fragen Sie mich das?»
Sie legt die Hand auf den Mund, um eine heftige Emotion zurück zu halten…
«Jetzt, hier, genau an Ihren Schultern, ist ein junger Soldat, er scheint sehr erschöpft zu sein…»
«Was sagt er?»
«Endlich bin ich nach Hause gekommen.»
Wie immer bin auch ich sehr bewegt. Niemand kann gleichgültig bleiben; es sind außergewöhnliche Dinge. Plötzlich nimmt der Soldat das Gewehr von seiner Schulter und legt es vor seine Füße.
«Mirella, das ist Mamas Bruder; er wurde in den Krieg einberufen… Ich war ganz klein, aber ich erinnere mich, dass Mama erzählte, dass ihre Mutter jeden Tag auf ihn wartete, jahrelang, immer… Mein Onkel wurde für vermisst erklärt.»
Ohne dass ich sie danach gefragt hätte, zeigt sie mir ein Foto, das sie in ihrer Handtasche hat: «Das hier ist meine Mutter, das meine Tante und hier ist der Bruder meiner Mutter. Er trägt Soldatenkleidung und dieses Bild ist die einzige Erinnerung, die wir an ihn haben; mein Onkel ist nie mehr heimgekehrt.»
Der Soldat, der vor meinen Augen steht, ist derselbe Soldat wie auf dem Foto. Er hat ein Gewehr, das er auf den Boden gelegt hat, nahe bei seinen Füßen.
Einige Monate später rief mich die Frau an. Sie konnte kaum sprechen: «Mirella, es ist unglaublich, sie haben ihn wiedergefunden! Wir haben einen Brief erhalten und darin steht, dass er mit weiteren italienischen Soldaten aufgefunden wurde und dass er zu uns heimkehrt… Jetzt wird er endlich eine würdige Beerdigung haben und jetzt kann ich, nein unsere ganze Familie kann beten und Blumen an sein Grab bringen…»
Sie war gekommen, damit ich wegen ihrer Krankheit für sie bete!

Eine plötzliche Metamorphose

Während ich in der Kirche bei der Messe das Kreuz betrachte, eröffnet sich mir eine beeindruckende und zugleich überaus sanfte Vision.
Eine lange Menschenreihe steht fast ganz im Schatten; einer steht hinter dem anderen, die Menschen sind bunt gemischt und keiner drängelt. Sie tragen normale Kleidung, kommen schweigend und langsam näher und gehen auf die einzige Tür zu. An der Türschwelle, die klein und eng ist, steht Er, Jesus, strahlend vor Licht.
Einzeln treten die Personen langsam ein; das Licht ist ganz leuchtend, intensiv, von verhaltener, sehr verhaltener rosa Farbe. Der Raum ist riesig groß, aber das Licht ist so «dicht», dass es mir nicht gelingt, seine Größe zu erkennen. Rechts und links sind Reihen von jungen Menschen, die noch strahlender, sehr groß und sehr schön sind. Es sind Engel.
Sobald die Personen eingetreten sind, sind sie nicht mehr so wie noch einen Augenblick zuvor. Es ist eine plötzliche Metamorphose und ihr Aussehen wird so glänzend wie ein Diamant.
Die Engel sind in das Licht getaucht; Licht im Licht, ihr Bild hebt sich, man kann ihre Gestalten, ihre Gesichter, ihre Haare, ihre nach oben erhobenen Arme ganz deutlich unterscheiden. Sie tragen lange Tuniken, die bis zu den Füßen reichen. Sie sind in Feststimmung und singen fröhlich.
Und da, in der Mitte – Wunder der Wunder – ich weiß nicht, ob es nah oder fern ist, ein noch intensiveres Licht, eine riesige Sonne, deren Zentrum wie das Schlagen eines Herzens «pulsiert».
Gott hat mir den Eintritt der Menschen in das Himmelreich und die Pforte des Himmels, die sein Sohn Jesus Christus ist, gezeigt.

November, Monat der Verstorbenen?

Nein, der November ist nicht der Monat der Verstorbenen, der November ist der Monat der Liebe, der Monat der Erinnerungen, der Monat des Heimwehs, der Monat der Blumen, der Monat des Gebets für unsere Lieben.
Wie oft streicheln wir diese vergilbten Fotoaufnahmen während wir seufzend an all die Momente gemeinsamen Lebens zurückdenken. Warum haben wir nicht verstanden, als es Zeit war zu verstehen? Wie viel einfacher hätte das irdische Leben sein können! Warum haben wir nicht mehr geliebt, als es Zeit war zu lieben? Wie viel einfacher hätte das irdische Leben sein können!
Wir haben nicht vergeben? Vergeben wir jetzt, vergessen wir, was uns zugefügt wurde…
Uns wurde nicht vergeben? Bitten wir jetzt darum, dass uns vergeben wird.
Haben wir viel geliebt? Sind wir viel geliebt worden? Und jetzt? Jetzt lieben sie uns noch mehr, in der Vollkommenheit der Liebe – für immer. Die Liebe kennt keine Grenzen, sie ist endlos.
Nie sind der Himmel und die Erde so vereint wie im Monat November. Nie ist unser Herz ihren Herzen so nahe wie im Monat November.
Wo sind unsere Lieben, all die Menschen, die wir so sehr geliebt haben? Nahe bei uns und in Gottes Herrlichkeit.
Unsere Lieben.
Die Friedhöfe, diese «heiligen Felder» wie sie von den Engeln genannt werden, sind voller Blumen und scheinen Gärten zu sein.
Alle? Gilt die Erinnerung allen? Nein, nicht allen. Wer gedenkt der Soldaten? Wie viele junge Männer haben mutig ihr Leben hingegeben, um ihr Vaterland zu verteidigen.. Die Soldaten aller Kriege, aller Epochen und aus allen Zeiten der Geschichte. Aus wie vielen Kriegen?
Erinnern wir uns unserer Lieben? Aller? Nein… nicht aller. Und unsere Vorfahren? Gedenken wir ihrer? Wer erinnert sich an sie? Wer betet für sie? Wer stellt ihnen eine Blume hin? Wer zündet eine Kerze an? Wir selber existieren nur, weil sie existierten.
So unendlich ist es, das Unendliche. So unermesslich ist der Himmel. So unermesslich ist er bevölkert, der Himmel…, endlos, die Liebe. Wie schön ist es, Christ zu sein, wie barmherzig und einnehmend ist unser christlicher Glaube.
Mein Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch, deiner Lehre fehlt es an nichts!
Dass ich Zeugnis ablegen kann, ehrt mich.
Mein Herr, Herr des Lebens, mit welchem Wort kann ich, können wir, zu dir sprechen? Durch welche Musik können wir dich besingen?
Mein Herr, vor so viel endloser Schönheit erhebe ich schweigend meine Augen zum Himmel und schweigend knie ich mich zu deinen Füßen.
Herr, nimm alle deine Kinder, die überall hin verstreut sind, in dein Reich auf; alle, die im Frieden die Erde verlassen haben…
Ihr aber, betet von dort oben für uns…

Literatur:

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