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Die Werte des Lebens in Erinnerung rufen

Benedikt XVI.

Am 8. März 2008 hat Papst Benedikt XVI. anlässlich der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur eine Rede gehalten, die sich mit der Verweltlichung beschäftigt, die auch die Kirche berührt und bedroht.

Mit Freude empfange ich euch anläßlich der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Kultur und gratuliere euch zu der geleisteten Arbeit, insbesondere zu dem für diese Versammlung gewählten Thema, das sich mit einer für die Zukunft der Menschheit und der Kirche grundlegenden Frage auseinandersetzt: «Die Kirche und die Herausforderung der Säkularisierung.» Die Säkularisierung, welche die positive Bedeutung von Säkularität aufgibt und so häufig zu einem Säkularismus wird, unterwirft das christliche Leben der Gläubigen und der Hirten einer harten Prüfung. Ihr habt das bei eurer Arbeit erörtert und auch in eine von der Vorsehung willkommene Herausforderung verwandelt, um auf die Fragen und Hoffnungen der Menschen von heute überzeugende Antworten zu geben.
Mehr denn je ist heute die wechselseitige Öffnung unter den Kulturen ein bevorzugtes Gebiet für den Dialog zwischen Menschen, die sich jenseits aller sie trennenden Divergenzen um die Suche nach einem echten Humanismus bemühen. Die Säkularisierung, die sich in den Kulturen als Entwurf der Welt und des Menschseins ohne Bezugnahme auf die Transzendenz zeigt, durchdringt jeden Aspekt des täglichen Lebens und entwickelt eine Denkart, die Gott de facto entweder vollkommen oder teilweise aus dem Dasein und dem Bewusstsein des Menschen ausschließt. Diese Säkularisierung stellt nicht nur eine äußere Bedrohung für die Gläubigen dar, sondern zeigt sich seit geraumer Zeit auch innerhalb der Kirche selbst. Tief und von innen heraus entstellt sie den christlichen Glauben und demzufolge auch die Lebensweise und das tägliche Verhalten der Gläubigen. Sie leben in der Welt und sind häufig von der Kultur der Bilder, in der sich widersprüchliche Ideale und Impulse aufdrängen, tief beeinflusst, wenn nicht sogar geprägt, mit der praktischen Verleugnung Gottes: Man braucht Gott nicht mehr, man muss nicht mehr an ihn denken und zu ihm zurückkehren. Des weiteren begünstigt die vorherrschende hedonistische und konsumorientierte Mentalität in den Gläubigen wie in den Hirten ein Abdriften zu Oberflächlichkeit und Egozentrismus, was dem kirchlichen Leben schadet.
Der in den vergangenen Jahrzehnten von vielen Intellektuellen angekündigte «Tod Gottes» ist einem unfruchtbaren Kult der Individualität gewichen. Vor diesem kulturellen Hintergrund besteht die Gefahr einer geistlichen Atrophie und einer Leere des Herzens, die bisweilen von Ersatzformen religiöser Zugehörigkeit und einem vagen Spiritualismus gekennzeichnet sind. Wie sich zeigt, ist es mehr denn je dringend, einem derartigen Abdriften entgegenzuwirken, indem wir an jene hohen Werte des Daseins erinnern, die dem Leben Sinn verleihen und die Unruhe des nach Glück strebenden menschlichen Herzens lindern können: die Würde des Menschen und seine Freiheit, die Gleichheit aller Menschen, den Sinn des Lebens, des Todes und dessen, was uns nach unserem irdischen Daseins erwartet. Im Bewusstsein der radikalen und schnellen gesellschaftlichen Veränderungen erinnerte mein Vorgänger, der Diener Gottes Johannes Paul II., an die dringende Notwendigkeit, dem Menschen auf dem Boden der Kultur zu begegnen, um ihm die Botschaft des Evangeliums zu vermitteln. Zu diesem Zweck gründete er den Päpstlichen Rat für die Kultur, der dazu bestimmt war, der Aufgabe der Kirche, das Evangelium der Vielzahl der Kulturen in den verschiedenen Teilen der Welt nahezubringen, einen neuen Impuls zu geben (vgl. Schreiben an Kardinal Casaroli, in O.R. dt., Nr. 28, 9.7.1982, S. 8–9). Die intellektuelle Sensibilität und die Hirtenliebe Johannes Pauls II. veranlassten ihn, die Tatsache zu betonen, dass die Industrielle Revolution und die wissenschaftlichen Entdeckungen es ermöglicht haben, Fragen zu beantworten, auf die vorher nur die Religion teilweise eine befriedigende Antwort geben konnte. Die Folge war, dass der heutige Mensch oft den Eindruck hat, niemanden mehr zu brauchen, um das Universum zu begreifen, zu erklären und zu beherrschen; er betrachtet sich als das Zentrum von allem, das Maß aller Dinge.
In jüngster Zeit bewirkte die Globalisierung mittels der modernen Informationstechnologien nicht selten auch die Verbreitung zahlreicher materialistischer und individualistischer Komponenten des Westens in allen Kulturen. Mehr und mehr wird die Formel »Etsi Deus non daretur« zu einer Lebensweise, deren Ursprung in einem «Hochmut«» der Vernunft liegt – obwohl auch diese eine von Gott geschaffene und geliebte Wirklichkeit ist –, die sich für selbstgenügsam hält und sich der Betrachtung und der Suche nach einer sie übersteigenden Wahrheit verschließt. Das Licht der Vernunft, von der Aufklärung verherrlicht, in Wirklichkeit aber verarmt, ersetzt auf radikale Weise das Licht des Glaubens, das Licht Gottes (vgl. Benedikt XVI., Vorlesung für den Besuch in römischen Universität »La Sapienza«, 17. Januar 2008, O.R. dt., Nr. 4 vom 25.1.2008, S. 6). Daher handelt es sich um große Herausforderungen, mit denen sich die Sendung der Kirche in diesem Bereich auseinandersetzen muss. Von wesentlicher Bedeutung sind somit die Bemühungen des Päpstlichen Rates für die Kultur um einen fruchtbaren Dialog zwischen Wissenschaft und Glauben. Es ist dies eine von der Kirche wie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft intensiv erwartete Auseinandersetzung, zu deren Fortsetzung ich euch ermutigen möchte. In ihr setzt der Glaube die Vernunft voraus und vervollkommnet sie, und die vom Glauben erleuchtete Vernunft findet die Kraft, sich zur Erkenntnis Gottes und der geistlichen Wirklichkeiten zu erheben. In diesem Sinn fördert die Säkularisierung nicht das letzte Ziel der Wissenschaft, die im Dienst des Menschen – «imago Dei» – steht. Möge durch diesen Dialog die Unterscheidung der spezifischen Charakteristiken von Wissenschaft und Glauben fortgesetzt werden. Jede dieser Wirklichkeiten hat nämlich die ihr eigenen Methoden, Bereiche, Forschungsgegenstände, Ziele und Grenzen und muss gegenüber der anderen deren legitime Möglichkeit einer autonomen Ausübung entsprechend den jeweiligen Prinzipien respektieren und anerkennen (vgl. Gaudium et spes, 36). Beide sind berufen, dem Menschen und der Menschheit durch die Förderung der Entwicklung und des ganzheitlichen Wachstums jedes einzelnen und aller zu dienen.
Vor allem fordere ich die Hirten der Herde Gottes zu einer unermüdlichen und hochherzigen Mission auf, um auf dem Boden des Dialogs und der Begegnung mit den Kulturen, der Verkündigung des Evangeliums und des Zeugnisses dem besorgniserregenden Phänomen der Säkularisierung entgegenzutreten, das den Menschen schwächt und ihn in dem ihm eigenen Streben nach der ganzen Wahrheit behindert. Somit mögen die Jünger Christi, insbesondere dank des von eurem Dikasterium geleisteten Dienstes, Christus weiterhin im Herzen der Kulturen verkünden, denn er ist das Licht, das die Vernunft, den Menschen und die Welt erleuchtet. Auch wir stehen vor der Mahnung, die der Engel an die Kirche von Ephesus richtet: »Ich kenne deine Werke und deine Mühe und dein Ausharren… Ich werfe dir aber vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast« (Offb 2,2.4). Machen wir uns den Ruf des Geistes und der Kirche zu eigen: «Komm!» (Offb 22,17), und lassen wir unser Herz erfüllen von der Antwort des Herrn: «Ja, ich komme bald» (Offb 22,20). Er ist unsere Hoffnung, das Licht für unseren Weg, die Kraft, um die Heilsbotschaft mit apostolischem Mut bis tief in das Herz aller Kulturen zu verkünden. Möge Gott euch bei der Erfüllung eurer schwierigen, aber begeisternden Aufgabe beistehen!

© Copyright 2008 - Libreria Editrice Vaticana