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Am Karfreitag hast Du das Kreuz umarmt1

Ostern 2021

Ein einziges Mal pro Jahr werden wir am Karfreitag vom Priester eingeladen, das Kreuz zu küssen.
Was ist die tiefe Bedeutung dieses Akts? Sind wir uns seiner außerordentlichen Bedeutung bewusst? Das Schlimmste wäre, ihn mechanisch, wie eine Formalität auszuführen. Dann wäre es besser, ihn ganz zu unterlassen, denn Gott übergeht zwecklose Gesten. Er wünscht sich eine lebendige Begegnung, nicht sinnlose Riten.
Das erste Gefühl, das uns erfüllt, wenn man uns das Kreuz hinhält, ist natürlich Mitleid. Das Wort bedeutet «mit jemandem leiden». Um das Leiden von jemandem zu teilen, muss man den Kontext, die Umstände und die Intensität kennen. Was wissen wir über das Leiden des menschgewordenen Gottes? Die Evangelien geben nur die groben Umrisse der Ereignisse wieder. Obwohl niemand jemals die unendliche Tiefe des Martyriums unseres Erlösers erfassen kann, der wie die Traube in der Weinpresse zerquetscht wurde, erlauben uns die von den Heiligen und Mystikern hinterlassenen Berichte über die Passion, tiefer in dieses Geheimnis einzudringen. Manche Menschen sträuben sich und sagen, dass der Anblick von so viel blutiger Gewalt sie schockiere. In der Tat stört uns die Wirklichkeit der von Jesus ertragenen Qual, sie reißt uns aus unserer Bequemlichkeit, sie erschüttert uns, sie versetzt uns in Schrecken... Aber was gibt es Schlimmeres als die Ermordung des Schöpfers des Universums? Wir stehen plötzlich den Folgen unserer eigenen Sünde gegenüber, denn auch für uns persönlich wurde Christus zu Tode gequält!
«[Der Gottmensch] ist das ausersehene Opfer, und als solches musste er die ganze Menschheit mit seinem eigenen Blut reinwaschen.»2
Jedes deiner Zugeständnisse an das Böse, sagt er uns bei dieser Gelegenheit, hat meinen heiligsten Leib zerrissen, einen Dorn in meine Schläfen getrieben, das Loch der Nägel vergrößert, die mich an das Holz der Schmach banden. Deine Verleugnung hat mich geohrfeigt, deine Lieblosigkeit hat mein Herz durchbohrt, und nun willst du den Kopf abwenden, um das nicht zu sehen.
«Mein Herz wird nicht geliebt, man denkt nicht daran. Man vergisst mein Herz, das nichts als Liebe ist und das sich so sehr danach sehnt, geliebt zu werden, sich zu verschenken. Man geht vorbei, ohne mich anzusehen. Mein Herz blutet vor Schmerz... Ich werde nicht geliebt.»3
Verleugnung ist die Haltung, die am stärksten im Widerspruch zur Achtung unseres Erlösers steht. Wie oft ist er seinen Lieblingsseelen vollkommen von der Geißelung und Kreuzigung entstellt erschienen und suchte etwas Trost! Und wir würden uns weigern, einen winzigen Teil dieses Ozeans der Schmerzen zu spüren, indem wir einen Moment am Rand des Weges nach Golgatha innehalten, den er gehorsam ging, um uns das ewige Leben zu schenken?
«Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen. – Kommt, lasset uns anbeten!»4
Mitleid, Verehrung und Anbetung, aber auch grenzenlose Dankbarkeit für den Einen, der an unserer Stelle alles ertragen hat...
«... Jesus, unser Herr wurde wegen unserer Verfehlungen hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung auferweckt.» (Röm 4,24-25)
Jesus, das unendlich anbetungswürdige Lamm5 wurde geopfert, um die Vergebung des Vaters auf die gefallene Menschheit herabzubringen. Ihm verdanken wir alles, vor allem unser Sein und unser Leben, und dann unseren Zugang zum Himmel! Wie könnten wir anders, als erschüttert zu sein von dem, was Er ertragen hat, um für uns das Recht zu erlangen, in die ewige Freude einzugehen? Es gibt kein Laster, kein Verbrechen, das Er nicht auf sich genommen hat, um es vollständig zu sühnen. Durch den Gehorsam dem Vater gegenüber wollte Er, dass alle Schuld der Welt auf Sein Unbeflecktes Wesen übertragen und dann mit der höchsten Strafe bestraft wird, um sie in uns gegen Seine erlösende Heiligkeit einzutauschen. Er hat sich selbst zum Verworfenen gemacht, um die göttliche Gerechtigkeit zu befriedigen, damit unsere Seelen ihr ursprüngliches Weiß wiedererlangen.
«Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der HERR ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen» (Jes 53,5-6).
Mit einem Kuss wurde Christus verraten, verkauft, den grausamen Wachen übergeben... Wenn wir das Kreuz küssen, soll unsere Liebe den unaussprechlichen Schmerz seines Herzens lindern. Machen wir aus diesem Kuss eine Salbung, die aus unserem ganz kleinen, so armen Herzen hervorsprudelt und sich sanft auf das Seine legt. Nichts wird die Niedertracht des Judas und aller «Judasse» der Erde auslöschen können, aber die Zärtlichkeit der wahren Freunde Jesu kann einen wohltuenden Balsam auf diese klaffende Wunde legen. Unsere Unwürdigkeit hat nichts zu bedeuten, wenn wir sie eingestehen und uns vor der menschgewordenen Reinheit erniedrigen, denn Jesus kam für die kranken, verkrüppelten, aussätzigen Seelen, die wegen ihrer unzähligen Sünden gelähmt sind...
Jesus zur heiligen Margareta-Maria Alacoque: «Siehe da dieses Herz, das die Menschen so sehr geliebt hat, dass es sich verzehrte, um ihnen diese Liebe zu erweisen. Als Lohn dafür ernte ich von den meisten nur Undank durch ihre Unehrerbietigkeit und ihre Sakrilegien, durch die Kälte und Verachtung, die sie mir in diesem Sakrament der Liebe entgegenbringen.»6
Wenn wir uns vor dem Kreuz verneigen, sollten wir daran denken, dass die verwundete Liebe nach Wiedergutmachung ruft: Die heiligsten Wunden des Gekreuzigten warten auf unsere Umarmung, um das Brennen zu kühlen, das jede Untat wieder anfrischt und bis zum Ende der Welt anfrischen wird. Jesus braucht Männer und Frauen, die weder kalt noch lau sind, sondern entschlossen für ihn sind und nach Gott dürsten!
Das Holz der Qualen küssen ist ein Akt, der uns in die Pflicht nimmt. Wer seine Lippen auf das Kreuz drückt, kann nicht mehr ganz derselbe sein, er kann sich nicht mehr nur von «unten» nähren, von der Nahrung, die den Körper stärkt, ohne die Seele zu sättigen. Denn das Kreuz ist der neue Baum des Lebens und der Weisheit mit ewigem Glanz. Wenn man es mit Liebe berührt hat, heißt das, dass man seinen erleuchtenden Lebenssaft bereits gekostet hat, der die Seele verklärt. Im Unsichtbaren ist uns ein heiliges Zeichen eingeprägt, das Satan und seine Handlanger in Angst und Schrecken versetzt. Es ist das Siegel der Erlösung, das Zeichen unseres Loskaufs durch das vergossene Blut.
Kraft dieser dreimal heiligen Prägung müssen wir vorangehen und uns glühend wünschen, jedes heimliche Einverständnis mit dem Bösen zu brechen, damit wir uns vorbehaltlos an dieses Kreuz des Sieges binden, das die Macht des Todes zerstört hat! Treffen wir die radikale Entscheidung, uns zum vollkommensten Willen dessen zu bekehren, der unsere Menschheit angenommen hat, um uns mit seiner Göttlichkeit zu vereinen,7 denn der vertrauensvolle Gehorsam ist der einzige Weg, der zur Glückseligkeit führt. Wir werden auf dem schmalen Weg zum Heil vielen Schwierigkeiten, Prüfungen und Bedrängnissen begegnen, denn Gott prüft immer jene, die er liebt, damit sie vor Schönheit strahlen.
«Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach»8, sagt uns Jesus, wenn es uns dann schwer fällt. «Hab Erbarmen mit der großen Last, die ich tragen muss, um dich und deine Brüder zu erlösen, die ebenso Glieder meines Leibes sind! Schau, wie tief ich unter der Last gebeugt bin, sieh mein geschwollenes, bespucktes Gesicht, die Wunde an meiner Schulter, die sogar die Knochen freilegt, meine durch wiederholte Stürze aufgeschlagenen Knie, mein erschöpftes Herz, meine von Blut getrübten Augen… Bist du bereit, ein neuer Simon von Cyrene zu sein, der mir nur einen Augenblick lang hilft, das Kreuz nach Golgatha zu tragen? – Einen Augenblick dieser Zeit, die ich dir gegeben habe, um hier auf Erden lieben zu lernen, bevor du der Liebe gegenübertrittst? Wenn du dich nicht auflehnst, wenn du dieses Stück Weg mit mir gehst und dein Herz sich dabei von meinem Martyrium berühren lässt, dann wird dein Lohn im Himmelreich groß sein!»
«Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. (…) Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen (…) Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen (1 Petr 2,19-25).
Als Brücke, die vom Abgrund des Limbus bis zum höchsten Himmel gespannt ist, zieht das Kreuz alle Menschen an, gemäß der Verheißung Jesu: « (…) Jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen» (Joh 12,31-32).
Lassen wir uns von seiner Umarmung, der Umarmung Gottes ergreifen!
An dem Tag, an dem ich vor Ihm erscheine, den ich verletzt habe, (...) was soll ich dann sagen, wenn die Sünden und Verrate meines Lebens mich anklagen? Doch dann wird da dieses Kreuz sein, an dem Er für mich den Todeskampf ausgestanden hat, an dem er jenen Tropfen Blut für mich vergossen hat, an dem er für mich gebetet hat: «Vater, vergib ihm!»
«Oh Jesus, mein Gott, lass mich jetzt gleich spüren, dass ich dich zum Bluten gebracht habe!»9

Marie Vérenne

 

Anmerkungen:
1.    Die Gesundheitsvorschriften zwangen dazu, diesen Kuss durch eine einfache Verbeugung zu ersetzen. Es handelt sich also um einen geistlichen Kuss, der denselben Wert hat.
2.    La Passion de Jésus [Die Passion Jesu] – Visionen von Catalina Rivas. Verlag Rassemblement à Son Image, 2018.
3.    Jesus zu Marie-Octavie Mastis, genannt Filiola.
4.    Karfreitagsliturgie.
5.    Bezeichnung Gottes, die bedeutet «über alle Maßen anbetungswürdig» (Theologie).
6    Heilige Marguerite-Marie, Botin des Heiligsten Herzens (1647-1690), Paray-le-Monial.
7.    Vgl. Liturgie der Eucharistiefeier
8.    Vgl. Mt 16,24.
9.    Msgr. Charles Journet (1891-1975): Les sept Paroles du Christ en Croix [Die sieben Worte Jesu am Kreuz]. 1998.

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