Ein Tropfen Milch - Hilfe für Syrien
Kirche in Not - Interview
Das Interview mit Frau Lucia Wicki-Rensch, Informationsbeauftragte von «Kirche in Not (ACN)» Schweiz/Liechtenstein führte Diakon Felix Zgraggen, Wädenswil ZH.
Aus Syrien erreichen uns, seit 2011 die bewaffneten Auseinandersetzungen begannen, Nachrichten und Bilder der Zerstörung. Wir können das Ausmaß der humanitären Krise und der Not der Bevölkerung nur erahnen. Sie waren Anfang November noch dort vor Ort: was haben Sie angetroffen?
In der Abenddämmerung sind wir über die Bekaa-Ebene aus dem Libanon nach Syrien eingereist. Die gut ausgebauten Straßen nach der syrischen Grenze ließen mich einen früheren hohen Standard erahnen. Als wir spät in der Nacht in Damaskus eintrafen, stellte ich mir eine komplett zerstörte Stadt vor, aber Damaskus war an diesem Abend voller Leben. Am nächsten Tag besuchten wir die bombardierten, zerstörten Stadtteile wie Jobar, Harasta, Ainterma und Gabun und erfuhren, wie die christlichen Viertel während des Krieges auch von Granaten bombardiert wurden. Die humanitäre Not der Bevölkerung ist nach wie vor deutlich spürbar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung musste ihre zerstörten Häuser, ihre Heimat verlassen und ist immer noch auf der Flucht, sei es im Lande oder im Ausland. Laut UNHCR haben seit Kriegsbeginn 5,7 Mio. Menschen das Land verlassen und 6 Mio. befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht.
Wie geht es den Menschen dort? Was beschäftigt sie?
Die wirtschaftlichen Sanktionen sind im Lande markant spürbar. Die Teuerung und die Inflation sind extrem hoch. Im täglichen Leben treffen die Sanktionen die Menschen hart. Das Benzin ist rationalisiert, pro Auto stehen im Monat 100 Liter zu einem Preis von 225 Lira pro Liter (~0.5 €) zu. Auch das Gas zum Kochen und Heizen ist nicht immer zu finden und die Menschen stehen dafür manchmal stundenlang Schlange. Strom ist in gewissen Teilen des Landes unterschiedlich stark rationalisiert. Wir können uns jetzt vorstellen, wie alleine diese Beispiele den Menschen den Alltag erschweren und die Preise der Lebensmittel beeinflussen. Export und Import sind sehr eingeschränkt, daher ist auch der Zugang zu Medikamenten, die nicht in Syrien produziert werden können wie solche für schwere Krankheiten, praktisch unmöglich. In den Banken werden die Überweisungen im In- und Ausland oft blockiert.
Das Christentum ist seit der Entstehungszeit in Syrien präsent. Der Apostel Paulus hatte sein Bekehrungserlebnis ganz in der Nähe von Damaskus. Können Sie etwas sagen zur Situation der Christen heute?
Die syrischen Christen befinden sich in einer sehr schwierigen Situation. Seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2011 verließen über 500 000 Christen das Land und suchten Zuflucht in den umliegenden Ländern. Einigen gelang es, bis nach Europa oder Nordamerika zu kommen. Die Christen, die im Gebiet leben, das von der Regierung von Baschar Al-Assad kontrolliert wird, können ihre Religion frei ausüben. Religiöse Feste können gefeiert und Prozessionen abgehalten werden – davon konnte ich mich persönlich in Maalula überzeugen. In der Region Idlib, wo die Regierung keinen Einfluss hat, sehen sich alle Nicht-Muslime großer Gefahr ausgesetzt. Die Christen lebten auch im von den Kurden kontrollierten Gebiet Nordsyriens sicher und ihre Glaubensausübung war ihnen möglich. Jetzt, nach Abzug der Amerikaner und dem Vorpreschen der Türken, verschlechtert sich ihre Lage. Viele Christen fliehen nun. Die Verbliebenen müssen schauen, welche Kräfte das Machtvakuum füllen werden – alle hoffen, dass es erneut keinen IS-Staat geben wird.
Als ich die Paulusmauer und den Bekehrungsort des Apostel Paulus in Damaskus besuchen durfte, nahm ich wahr, dass die Christen solche heiligen Orte sehr schätzen und am Leben erhalten. Sie sind auf ihre Wurzeln als die «Wiege des Christentums» sehr stolz. Wie alle Syrer haben auch die Christen unter diesem Krieg stark gelitten, insbesondere weil sie eine Minderheit sind in einem mehrheitlich muslimischen Land. In diesem Krieg wurden sie an manchen Orten verfolgt und getötet wie in Maalula und besonders im Norden des Landes bei Rakka, Kamishli, Aleppo und Homs, wo der IS herrschte und andere extremistische Gruppen die Gebiete kontrollierten. Und heute leidet fast jede christliche Familie unter dem Verlust eines Familienmitglieds, sei es wegen Entführung, Verfolgung, Flucht oder Tötung. Ihre Zukunft ist ungewiss und trotzdem geben sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf.
Was für eine besondere Rolle kommt den Christen zu?
Der hohe Bildungsstandard der Christen, ihre anerkannten und guten Schulen lassen sie eine wichtige Rolle in der Gesellschaft einnehmen, und erlaubt ihnen ebenfalls, eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau des Landes zu spielen. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1946 haben die Christen damals auf verschiedenen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und sozial, viel Aufbauhilfe geleistet, was sie in der heutigen Zeit gerne wiederholen möchten. Sie hoffen, dass ihr guter Wille geschätzt und anerkannt wird und sie dadurch ihre Existenz bewahren können und durch ihre Präsenz in Syrien das Christentum in Zukunft nicht aussterben wird, wie dies in vielen Regionen des Nachbarlandes Irak der Fall ist. Der Einfluss der Christen in Syrien ist beschränkt, da sie zahlenmäßig wenige sind. Gleichzeitig können die Christen aber auch auf eine fast 2000jährige Präsenz zurückblicken und genießen deshalb auch Ansehen. Zudem bietet sich Präsident Al-Assad die Möglichkeit, mit einer betont offenen Politik gegenüber den Christen und anderen religiösen Minderheiten der Welt zu zeigen, dass an seinem Regierungsstil nicht alles nur repressiv ist.
«Kirche in Not (ACN)» unterstützt ganz konkret, was sind laufende Projekte?
Mit dem Beginn des Arabischen Frühlings bestimmten plötzlich Gewalt und Krieg diesen Teil der Welt. Dies rief das Hilfswerk «Kirche in Not (ACN)» auf den Plan und es wurden seit 2011 allein in Syrien über 850 Projekte unterstützt im Umfang von CHF 42 Millionen. Damit standen wir den syrischen Christen bei, die in den Auseinandersetzungen keine Unterstützer hatten. Vor dem Einmarsch der türkischen Armee im Norden Syriens war die Lage im Land relativ ruhig, so dass man sich ohne große Risiken dort bewegen konnte. In der Zwischenzeit sieht die Lage anders aus – Gewalt und Krieg dominieren Syrien aktuell wieder. Nun ein konkretes Beispielprojekt – nur eines von vielen in Syrien:
Die Gefechte in Ost-Aleppo ruhen für den Augenblick und die Menschen kommen langsam zurück, um zu sehen, was von ihren Häusern übriggeblieben ist. Die Zerstörung und die Schäden an der Infrastruktur sind immens und die Not ist groß: Benötigt werden Lebensmittel, Heizöl, Wasser und Strom. Wir wurden gebeten, Abhilfe zu schaffen für eine der dringendsten Nöte der christlichen Familien in Aleppo: den Bedarf an Milch für Kinder.
In diesen Zeiten des Mangels ist Milch für das Wachstum und das Wohlergehen dieser Kinder entscheidend. Das Projekt, das den Namen trägt «Ein Tropfen Milch», will die monatliche Milchversorgung der christlichen Kinder von Aleppo unter dem 10. Lebensjahr sicherstellen.
Das ökumenische Projekt, das seit Mai 2015 läuft, wird von allen christlichen Kirchen Aleppos geschätzt, da es das einzige Programm ist, das allen Christen hilft, ungeachtet des Ritus oder der Kirche. Aber die Finanzierung dieses extrem wichtigen Projekts ist gefährdet. Obwohl es in Aleppo ruhig ist und die Stadt nicht mehr im Fokus der internationalen Medien steht, sind die Zustände himmelschreiend: 80% der Bevölkerung Aleppos wurde vertrieben und 70% leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Anzahl der Familien, die dringend Lebensmittel benötigen um zu überleben, ist dramatisch gestiegen. Dr. Nabil Antaki, ein syrischer Gastroenterologe, der während der Bombardierung bei der Bevölkerung geblieben ist und nun dieses Projekt koordiniert, hat um mehr Hilfe zur Weiterführung des Milchprojekts gebeten. «Wir verteilen jeden Monat Milch an etwa 2850 Kinder: 2600 erhalten Milchpulver und 250 erhalten spezielle Milch für Säuglinge, da diese Babys von ihrer Mutter nicht gestillt werden können. Die Gesamtzahl der Begünstigten variiert monatlich – je nach Anzahl der Geburten und Auswanderung der Familien», erklärt Dr. Antaki.
Mit wem arbeiten Sie zusammen?
In Syrien können wir fast alle christlichen Konfessionen antreffen. Die Griechisch-orthodoxe und die Syrisch-orthodoxe Kirche sind die größten Gemeinschaften des Landes. Vertreten sind auch; die Melkitisch Griechisch-katholische Kirche, die Maroniten, die Chaldäer, die Syrisch-katholische Kirche, die Armenische Kirche (mit ihren Armenisch-katholischen, Armenisch-orthodoxen und Armenisch-protestantischen Gemeinden) sowie die Römisch-katholische Kirche. Mit ihnen allen arbeitet «Kirche in Not (ACN)» zusammen, sei es mit den Patriarchen, den Bischöfen oder mit den Ordensgemeinschaften, Priestern und Nonnen.
Gibt es auch Zeichen der Hoffnung?
In einem seit 8 Jahren vom Krieg gebeutelten Land, wo ein Stellvertreter-Krieg der internationalen Großmächte und deren Interessen ausgetragen wird, ist die Hoffnung auf eine baldige Lösung nicht absehbar und schwierig zu finden. Auf der anderen Seite, wenn man die einfachen Leute betrachtet, wie sie in ihrem Alltag, trotz den enormen Schwierigkeiten so lebendig und hoffnungsvoll auf ein besseres Leben hoffen, realisiert man, dass das Leben stärker ist als der Tod. Auch in der größten Not gibt es diese Zeichen der Hoffnung.
Wie können wir von der Schweiz aus helfen?
Indem Sie mithelfen eine Solidaritätsbrücke von der Schweiz nach Syrien zu bauen. Damit wir die notleidenden Christen in ihren alltäglichen Herausforderungen weiterhin im Gebet und mit finanzieller Hilfe unterstützten können.
Was motiviert Sie persönlich, sich einzusetzen?
Der Nahe Osten und ganz Syrien faszinieren mich seit je. Einerseits, da das Christentum in dieser Ecke der Welt seinen Anfang nahm, aber auch, weil es eine kulturell äußerst faszinierende Gegend ist. Heute wohne ich zwar in der Stadt Luzern, doch persönlich stamme ich von der Minderheit der Rätoromanen ab und habe ein offenes Herz und wachsame Augen, um für Minderheiten einzustehen. Die Christen im Nahen Osten sind in der Minderheit, sie zu unterstützen ist mir eine wahre Freude.
Viele Menschen – auch Christen – sind gleichgültig geworden gegenüber dem vielen Leid, worüber täglich auf der ganzen Welt berichtet wird. Sie sagen: «Wir können nicht allen helfen». Was würden Sie jemandem erwidern, der so denkt?
Solidarität ist eine Tugend, die jedermann leben darf. Wenn wir den Christen, insbesondere im Nahen Osten, nicht helfen werden, so werden diese Orte, die Wurzeln unseres christlichen Glaubens, ausgelöscht werden. Es muss nicht jeder allen helfen, aber wenn nur einer bereit ist, einem anderen zu helfen, so wird sich eine Kette bilden und durch diese Solidarität wird es möglich sein, gemeinsam füreinander einzustehen, um die Not der Menschen zu lindern.
KIRCHE IN NOT
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