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Gedenke, o mildreichste Jungfrau Maria!

Memorare!

Von Pater Paul-H. Schmidt

Wer kennt es nicht, jenes zu Herzen gehende Gebet zur barmherzigen Gottesmutter, das «Memorare», das dem hl. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) zugeschrieben wird? In der ganzen christlichen Welt ist es heute verbreitet. Die Kernaussagen darin gehen tatsächlich auf diesen großen Heiligen des Mittelalters zurück. Zurecht nennt man ihn den «marianischen Heiligen».
In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts rüttelte er das Abendland mit seinen Predigten auf. Als Neugestalter einer veralteten Welt ging er in die Geschichte ein, er und der von ihm beeinflusste Zisterzienserorden stellte sich bewusst unter den Schutz Mariens.
Die Bausteine für sein heute weltbekanntes «Memorare» finden sich verstreut in seinen verschiedensten Schriften. So stößt man in einer seiner Ansprachen zum Advent (2,5) auf den Vers:
Unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin!
Versöhn uns mit deinem Sohne,
Empfiehl uns deinem Sohne,
Stell uns vor deinem Sohne!
Mag auch heutzutage nicht mehr feststellbar sein, wer genau seine Aussagen in die jetzige Fassung gebracht und ihnen die endgültige Form gegeben hat: Sicher ist, dass sie die Spiritualität des Heiligen atmet. Das Gebet hat der Kirche und vielen Einzelpersonen unschätzbaren Segen gebracht. Zwei markante Beispiele dafür seien hier kurz angeführt: Zunächst aus dem Leben des hl. Franz von Sales:
Als dieser, in jungen Jahren, von seinem Vater gedrängt, sich in Paris dem Jurastudium hingab, beschäftigte er sich unklugerweise auch mit der Prädestinationslehre des Reformators Calvin. Dabei fiel Franz in eine tiefe Depression: Er glaubt sich für die Hölle bestimmt, hielt sich für ewig verloren, von Gott verworfen. In dieser beklagenswerten Stimmung lenkte er seine Schritte in die ihm wohlbekannte Kirche Saint-Etienne-des-Grès, um vor einem Gnadenbild der Muttergottes zu beten. Es fiel ihm dort eine an der Mauer befestigte Tafel auf, die das «Memorare» des hl. Bernhard widergab. Er kniete sich hin und betete es. In diesem Augenblick fühlte sich Franz von allen Sorgen befreit, wie neugeboren. Von Dankbarkeit angetrieben, versprach er, fortan täglich den Rosenkranz und dieses «Memorare» zu  beten.
Ja, seine Schwermut war «von Haupt und Leib wie Krusten und Schuppen des Aussatzes abgefallen.» Franz von Sales hatte durch den Beistand der Muttergottes zur wahren Freiheit zurückgefunden, seine eigentliche Lebensaufgabe begann mit diesem Augenblick. Er war «wieder geboren». Der Weg war frei zum Priestertum, er wurde Bischof, Ordenstifter, Schriftsteller, Kirchenlehrer und Heiliger. Die Kirche hat ihm unsagbar viel zu danken!
Etwas ähnliches widerfuhr einem Alphons Ratisbonne am 20. Januar 1842 in der römischen Kirche St. Andreas delle fratte. Dieser Alphons entstammte einer geachteten jüdischen Bankierfamilie in Straßburg. Sein älterer Bruder Theodor hatte bereits den Weg zur katholischen Kirche gefunden, war Priester geworden, und inzwischen zum Vize-Direktor an der berühmten Pariser Kirche Notre-Dame des Victoires aufgerückt. Sein um 10 Jahre jüngerer Bruder Alphons verharrte dagegen in seiner Gleichgültigkeit, ja war von Abneigung und Hass gegen alles Christliche erfüllt.
Auf einer Vergnügungsreise, auf dem Weg nach Sizilien und Malta, machte Alphons Ratisbonne einen Abstecher nach Rom, und traf dabei zufällig einen Klassenkameraden aus der Straßburger Zeit, einen Herrn Théodore de Bussière, einen zur Kirche konvertierten Juden. Sie kamen ins Gespräch, wobei Ratisbonne wieder in äußerste Wut gegen alles Christliche geriet. Bussière bat schließlich seinen früheren Freund um einen einzigen Gefallen, den er ihm erweisen möge: Er solle doch, ihm zuliebe, ein Geschenk von ihm annehmen, nämlich eine sogenannte «Wundertätige Medaille», und sich diese umhängen. Außerdem möge er täglich, aus Freundschaft zu ihm, jeden Tag ein kurzes Gebet, das sogenannte «Memorare» sprechen, wovon er ihm eine Abschrift überreichte. Beides versprach Ratisbonne.
Bussière lud dann seinen Freund zu einer Stadtrundfahrt ein. Am 20. Januar 1842 kam sie zustande. Da Théodore de Bussière wegen einer bevorstehenden Beerdigung in der Pfarrei St. Andreas delle fratte zu tun hatte, ging Ratisbonne in der Zwischenzeit in die leere Kirche, um sie zu besichtigen. Und da geschah es, das große Wunder!
Als Bussière nach einiger Zeit aus dem Pfarrbüro zurückkam, fand er seinen Freund in tiefster Versenkung in der Kirche vor einem Seitenaltar, knieend, unbeweglich. «Ich habe sie gesehen! Ich habe sie gesehen!» stammelte er. Schließlich konnte er sich erklären. Die allerseligste Jungfrau sei ihm im Strahlenglanze erschienen, genauso, wie sie auf der «Wundertätigen Medaille» abgebildet sei.
Der Jude war vollständig bekehrt, Alphonse Ratisbonne begehrte die Taufe. Da er auf alle Katechismusfragen die richtige Antwort gab, konnte die Taufe bereits am 31. Januar 1842 in der Jesuitenkirche «Gesù» stattfinden. Ratisbonne aber wollte mehr, Priester wollte er werden. Er versuchte es zunächst bei den Jesuiten. Am 24. September 1848, dem Feste der Jungfrau der Barmherzigkeit, wurde er auch zum Priester geweiht.
Der getaufte Israelit fühlte sich jedoch von Gott berufen, alle seine Kräfte für seine Brüder, die Juden, einzusetzen. Er verließ den Jesuitenorden, und gründete mit seinem Bruder Théodore zwei neue Gemeinschaften, unter dem Namen «Unserer Lieben Frau vom Berge Sion», den einen für Männer, den andern für Frauen. Nach einem segensvollen Leben starb Alphons Ratisbonne am 6. Mai 1884 in einem der von ihm im Heiligen Land gegründeten Klöster. Begraben wurde er zwei Tage später in Ain Karin, jenem gesegneten Ort, wo die Begegnung Marias mit ihrer Base Elisabeth stattgefunden hatte, dem Geburtsort des «Magnifikat».
Alphonse Ratisbonne ist einer der gesegneten Gestalten der Kirchengeschichte, die ähnlich wie der hl. Franz von Sales beim Beten des «Memorare» mit Gnaden überschüttet wurde. Von seinem Irrtum befreit, wurde er, genau wie Franz von Sales, ein verdienstvoller Apostel im Reiche Gottes.  Denn «bei Gott ist nichts unmöglich»! (Lk 1,37)

Von Pater Paul-H. Schmidt

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