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Unsere Liebe Frau von Osier Vorausgestalt der Ökumene

Von Bernard Balayn

Die Fakten

50 Jahre nach Eröffnung des Konzils durch Papst Johannes XXIII. kann niemand die Rolle von Maria übergehen, die am Ende des Konzils zur Mater Ecclesiae erklärt wurde. Wie sollte die Mutter Jesu, die ihm das nahtlose Gewand gewoben hatte, die Rückkehr zur Einheit aller Christen, die seit so langer Zeit getrennt sind, nicht machtvoll unterstützen? Als Unsere Liebe Frau vor bereits 300 Jahren – mit Entschiedenheit – einem calvinistischen Gläubigen der Dauphiné erschien, wies sie deutlich auf diese Sorge um die einzige Herde der von ihrem Sohn gegründeten Kirche hin.  Auch wenn diese Erscheinung schon lange zurück liegt und unerwartet war, ist sie uns doch mehr denn je ein Appell in einer Zeit, in der die Ökumene zwar auf dem Weg, aber noch nicht abgeschlossen ist, trotz der Bemühungen des Konzils und der Päpste.
Im Geist der damaligen Ereignisse und ihres heutigen Widerhalls wurde dieser Artikel passenderweise zwischen der Gebetswoche um die Einheit der Christen und dem Fest der Verkündigung geschrieben. Zunächst befassen wir uns mit den Fakten und anschließend mit einer vertieften Untersuchung der Örtlichkeiten.

Die Umgebung

Im März 1649 befinden wir uns durch ein offenkundiges Zeichen der göttlichen Vorsehung – und zweifellos durch eine Gunst von Frankreichs Königin (1) – genau im 300. Jahr der Vereinigung der Dauphiné mit dem Königreich (2).
Die traurigen Religionskriege wurden mit dem Edikt von Nantes (1598) beendet; die Wunden rissen aber mit dem Widerruf dieses Friedensediktes im Jahr 1685 erneut auf. Für das Land war es daher, wenn auch nicht eine Epoche der Versöhnung, so doch eine Periode der Koexistenz von reformiertem Glauben und Katholizismus, der offiziellen Religion Frankreichs und der Monarchie. Die «Protestanten», die durch Luthers Wirken entstanden waren, wurden seit der Reform durch Johannes Calvin (1559) auch Calvinisten genannt. Sie hatten in Südfrankreich die Vorherrschaft, vor allem in den Bergen, wo man sich leichter verstecken konnte. So war es der Fall in den Alpen vom Aostatal, dem von den Waadtländern auserwählten Gebiet (3), über die Voralpen der Dauphiné, wo sich die erwähnte Geschichte ereignete, bis in die Südalpen. 1649 herrschten Anna von Österreich und Mazarin; es war der «Zünder» für die Herrschaft von Louis XIV. (1654-1715), das «große Jahrhundert», das Jahrhundert der katholischen Gegenreform.
Die Provinz Dauphiné umfasste später auch die Départements von Isère, Drôma und den Hautes-Alpes. Die hier berichteten Geschehnisse ereigneten sich in Isère (Diözese Grenoble), zwischen Romans und Tullins, in der Nähe von Vinay. Eineinhalb Meilen vom Fluss entfernt lag ein Ort mit einigen Dutzend Menschen (4): die «Plantées». Unter den Familien der Ackerbauern war auch die des Peter Port-Combet (ca. 45 Jahre alt), der den Calvinisten angehörte, die in dieser Gegend sehr verbreitet waren, und seine Frau Johanna Pélion (ca. 36 Jahre alt), mit ihren 4 Kindern (bald schon sollten es 6 sein, darunter nur ein Junge, Reymond, das älteste Kind). Die Fakten unserer Geschichte werden mit großer Genauigkeit durch die verschiedenen zivilrechtlichen und kirchenrechtlichen Untersuchungen, die zwischen 1649 und 1686 stattfanden, berichtet.
Ein blutender Baum!
Am 25. März 1649 war – und ist seit jeher gewesen – das Fest der Verkündigung Mariens. In jener Zeit der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat war das Fest nicht nur ein gebotener religiöser Feiertag, sondern auch ein staatlicher Feiertag, und daher galt an ihm noch mehr als am Sonntag, dass nicht gearbeitet werden durfte. Wer sich über dieses Verbot hinwegsetzte, konnte mit einer Ordnungsstrafe belegt werden.
An jenem Morgen beschloss Port-Combet trotz der Einwände seiner katholischen Frau, in der Morgendämmerung in seinem Garten Weidenruten zu schneiden. Er begann bei einer recht verzweigten Weide (5). Er stand hoch auf seiner hölzernen Leiter und hatte kaum einige Zweige geschnitten, als seine Hippe, seine Hände, seine Hose mit Blut bespritzt wurden und zwar dergestalt, dass seine Frau es nicht vollständig vom Werkzeug entfernen konnte. Verdutzt begann er abermals, diesmal weiter oben: dasselbe Phänomen! Ganz verstört über das Wunder rief er Johanna, die feststellte, dass er sich nicht geschnitten hatte. Auch sie stieg auf die Leiter, um sich von dem Geschehen zu überzeugen. Als sie Schnitte machte, rann kein Blut. Ihr Mann startete einen neuen Versuch: vergebliche Mühe, das Blut begann wieder zu rinnen, sogar noch stärker als zuvor.
Ein Freund, mit dem er am Nachmittag auf den Jahrmarkt gehen wollte, wurde hinzu gerufen und machte seinerseits einen Versuch. Es trat kein Blut aus.
Nachdem die beiden zum Jahrmarkt gegangen waren, wollte Johanna diese Erfahrung wiederholen: Der Weidenbaum begann wieder zu bluten!
Sie verstand nichts mehr und eilte fassungslos nach Hause zurück, wo sie blieb.
Am Sonntag, den 28. März, wurde ein weiterer Freund eingeladen, um sich von dem Ereignis zu überzeugen; er sah das getrocknete Blut, berührte den Baum nicht und ging zur hl. Messe nach Vinay.

Zivile und religiöse Reaktionen

Die Neuigkeit verbreitete sich schnell und erreichte auch die überraschte und bewegte Obrigkeit. Port-Combet wurde angeklagt, das bürgerliche Gesetz und das religiöse Verbot übertreten zu haben. Während seiner beiden Vernehmungen (am 30. März und 9. Mai 1649) bekannte er sich schuldig, trotz des Brauches, der unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Person kleine oder notwendige Arbeiten (wie Hausarbeiten) an Festtagen gestattet. Die Angelegenheit schien so bedeutsam zu sein, dass sowohl das bürgerliche als auch das kirchliche Recht nicht darüber hinweg gehen konnte. Dennoch kam es aber in den späteren Monaten und Jahren zu keiner Fortsetzung des Geschehenen. Port-Combet gestand selber, dass er die genaue Bedeutung des Ereignisses nicht verstanden habe… Schlussendlich musste er eine Strafe in Höhe von 3 Pfund zahlen. Wichtig ist übrigens, dass die Angelegenheit durch die königliche Justiz erfasst und verurteilt wurde; so wurde dem «Wunder» genügend Wahrheit zugebilligt, so dass die Kirche es nicht offiziell anerkennen musste. Nach Art der Lokalarchive gibt es noch eine bemerkenswerte Reliquie des berühmten Weidenbaums (und des Pfluges), die im Heiligtum aufbewahrt werden.
Im August 1649 wurde der Bischof von Grenoble durch Priester darüber informiert. Er ordnet eine erste, diskrete Untersuchung an (Januar 1650), die die Aussagen der einfachen und rechtschaffenen Dorfbewohner nicht für unglaubwürdig erklären konnte. Die Neugierde der Nachbarschaft fand ihren Ausdruck bald in einer Wallfahrt, deren Wellen langsam immer weitere Kreise zogen, bis der Bischof schließlich im September 1656 die Erlaubnis für die Errichtung eines Kreuzes in der Nähe des Baumstumpfes der Weide erteilte (der Baumstumpf war schnell ausgetrocknet und durch den Volkseifer fast verschwunden). Im Januar 1657 traf Erlaubnis für ein Oratorium ein, bevor es später zu weiteren Entwicklungen kam…

Neuerliches Auftreten: Die Erscheinung der Muttergottes (1657)

Unser Bauer suchte nach der Bedeutung dieses Ereignisses. Er dachte, es sei nur ein einmaliges Geschehen gewesen. Und er erhielt eine Antwort. Eine zweifache Antwort. Die erste Antwort war ein Zeichen, das von innen, aus seinem eigenen Haus kam: Das lange «Schweigen», das seit 7 Jahren, seit dem Ereignis des blutenden Weidenbaumes herrschte, wurde durch eine Tat der Vernunft und der Vorahnung stark erschüttert: Während Port-Combret noch nicht zu begreifen schien, was ihm 1649 widerfahren war, hatte es sein ältester Sohn, der erst siebzehnjährige Reymond, verstanden; im Januar 1657 sagte er dem protestantischen Glauben ab und wurde katholisch.
Aber dieses Zeichen genügte seinem Vater noch nicht, der zwischen seinem Gewissen und dem Druck, den seine Glaubensbrüder ausübten, hin und her gerissen war. Er wartete. Aber es dauerte nur eine kurze Weile, denn zwei Monate später brach der Himmel definitiv das Schweigen, um dem Ereignis von 1649 einen deutlicheren Sinn zu geben und er beschleunigte die Dinge, als die Muttergottes höchstpersönlich beschloss, zu erscheinen. Dieser «zweite Akt», ein äußerer Akt (denn er fand auf einem Ackerboden statt), ist uns durch das Zeugnis seiner Frau Johanna Pélion (die früh Witwe wurde) überliefert. Im April 1686, 37 Jahre nach Beginn der Ereignisse, legte sie feierlich ihr Zeugnis ab. Auch wenn sie schon 72 Jahre alt war, was damals nur sehr selten vorkam, unternahm sie eine Art Erklärung von all dem, was sich im wesentlichen zwischen 1649 und 1657 auf der übernatürlichen, der kirchlichen und der menschlichen Ebene zugetragen hatte. Die Witwe, die einzige dauerhafte und vertrauenswürdige Zeugin, verspürte vor ihrem Tod das Bedürfnis, die bekannte Wahrheit im Angesicht der Historie zu sagen. Es war eine freie, beeidigte Erklärung vor Zeugen, die in einem notariell beglaubigten Akt niedergeschrieben wurde, wobei die unvermeidlichen Abschweifungen der mündlichen Überlieferungen vermieden wurden.
Nach präzisierenden Angaben über das, was sich im März 1649 zugetragen hatte, kam Johanna Pélion zum Ende des Geschehens.
An einem normalen Arbeitstag im März 1657 hatte sich Port-Combret früh aufgemacht, um auf einem seiner Äcker, der ungefähr 200 Meter von seinem Hof entfernt war, Hafer zu säen. Als ihr Mann zu Mittag nicht nach Hause kam, machte sich Johanna auf den Weg zum Acker, wo sie die Ochsen, die in den Pflug gespannt waren, friedlich vorfand – aber ihr Peter war nicht da. Als sie einige Hirtenmädchen erblickte, erklärten ihr diese, dass sie ihn gesehen hätten und dass sie ihn sogar hatten sprechen hören, ohne eine weitere Person gesehen zu haben und dass er dann gegangen sei. Die verwirrte Frau spannte die Tiere aus und kehrte unverrichteter Dinge zu ihren sechs beunruhigten Kindern zurück. Die Stunden vergingen und die Angst wuchs, bis schließlich kurz vor Sonnenuntergang der Bauer heimkehrte. Angesichts des kühlen Empfangs durch seine Frau berichtete er ihr in einem ungewöhnlichen, heiteren, verwunderten Tonfall (6) von seinem neuen Abenteuer. Sie beherrschte sich und ließ ihn reden:
«O, Frau, wenn du wüsstest, was ich gesehen habe!… Ich habe die schönste Kreatur gesehen, die man auf der Welt sehen kann… Sie war weiß gekleidet, mit einem blauen Mantel, einem schwarzen Stoff um ihr Gesicht und doch hatte sie ein wunderbares Strahlen…» An jenem Morgen hatte er in der ländlichen Stille mit dem Säen begonnen, als unversehens eine junge Frau zu ihm kam, so als sei sie auf der Suche nach dem Weg. Er wollte schon darüber lachen, hatte ihr den Rücken zugewandt, beendete seine Arbeit und als er sich umdrehte, sah er sie vor sich und sie machte gar keinen verlorenen Eindruck… Sie war es auch, die ihn ansprach und mit den Worten grüßte: «Mögest du Gott gehören, mein Freund!» Sie gewann Autorität über den Mann, der verwirrt dastand, und sie fuhr fort: «Was sagt man von dieser Verehrung? Kommen viele Menschen hierher [nach Osier]?» Er hielt sie für eine Pilgerin und murmelte: «Guten Tag, Fräulein, es kommen ziemlich viele Menschen hierher». «Geschehen hier viele Wunder?» «O, Wunder…». Er war verlegen und wollte nicht antworten, daher beendete er den Satz nicht, drehte sich um, spornte seine Ochsen an und zog eine Furche. Aber die Reisende ließ sich dadurch nicht abhalten. Ganz ungezwungen und ohne ihre hoheitliche Würde aufzugeben, befahl sie ihm: «Halte deine Ochsen an, halte sie an! Wo bleibt dieser Hugenotte (7)? Will er sich nicht bekehren?» Diesmal verstand er zweierlei, dass nämlich diese Frau keine gewöhnliche Frau war und alles wusste, und dass sie ihm die Antwort auf seine Frage von vor 8 Jahren gab. Aber seine Not war noch nicht ausgestanden; er sann nur darüber nach, wie er ausweichen konnte, und aller Vernunft und Höflichkeit zum Trotz wurde er starrköpfig und machte weiter. Das geduldige, aber entschiedene «Fräulein» versicherte ihm: «Wenn du deine Ochsen nicht anhältst, werde ich sie anhalten!» In seiner Eigenliebe getroffen, erwiderte er: «Ich werde sie selber anhalten, mein Fräulein!» Er hatte seine Meisterin gefunden, hielt an und musste sich eine Warnung anhören: «Dein Ende naht; wenn du nicht konvertierst, wirst du eine der größten Holzgluten sein, die es jemals in der Hölle gab. Wenn du aber konvertierst, werde ich dich vor Gott beschützen.» Mit den Gedanken bei der gerade stattfindenden Wallfahrt fügte sie noch hinzu: «Sag er [Bauer Peter]  öffentlich, dass ihre Gebete nicht inbrünstig genug sind; wenn er sie zu größerer Inbrunst bringt, wird er viele Gnaden und Gunsterweise von Gott empfangen…»
Der Bauer zeigte sich bewusst zäh und wandte ihr neuerlich den Rücken zu, während ihn ein sonderbares Gefühl erfasste; ein Gefühl von schlechtem Lebenswandel und zugleich von Bedauern. Als seine Furche gezogen war und er sein Ochsengespann wendete, sah er, dass die Frau verschwunden war. Nun war es genau umgekehrt. Er lief hinter ihr her, aber da sie schneller als er war – ohne jedoch ihre Füße zu bewegen – war sie ihm immer voraus. Sie hörte jedoch seinen reuevollen Protest und barmherzig wie sie war, ließ sie sich nach 800 Metern einholen; hielt nach 12 Schritten einen Augenblick inne und dann verschwand sie, ohne sich umzuwenden.
Peter blieb, von der Gnade berührt, tief verneigt im benachbarten Gehölz, beweinte zweifellos sein armseliges Leben wie jeder es tun würde und meditierte über das so bedeutungsvolle Wort der «Fremden»: «Mögest du Gott gehören, mein Freund!» und über seinen unmittelbar bevorstehenden Tod! Als er sich mit Mühe von seiner Meditation losriss, erwies sich die mütterliche Liebe der Frau der Verkündigung stärker als seine unglückliche Einstellung und er kehrte zu seiner Pflicht zurück.
Was würde er tun?
Zunächst schien das wieder beruhigte Ehepaar auf die Einheit zuzugehen. Das war das erste große Wunder.

(Fortsetzung folgt)
Bernard Balayn

Anmerkungen:
1. Im Jahr 1638 gelobte Louis XIII. nach der «wunderbaren» Geburt von Louis-Dieudonné (dem künftigen Louis XIV.) sein Königreich der Muttergottes.
2. Der letzte Dauphin, Humbert II., überließ seinen Staat König Johann II, dem Guten, dessen Sohn Karl V. der erste «Dauphin Frankreichs» wurde. Diese «Über­lassung» fand am 30. März 1349 statt…
3. Die Weidenrute oder der Weidenbaum sind eine Weidenart, die in feuchten Gebieten vorkommt; sie besitzt biegsame Zweige, die man zum Herstellen von Körben und Korbwaren verwendet.
4. Ich hatte die Gelegenheit, die Waadtländer im Zeitraum um 1350 genauer zu untersuchen, als sie verfolgt wurden und aus der Dauphiné flohen. Sie stehen am entfernten, aber realen Ursprung des Protestantismus. Ihr Gründer war Raymond de la Côte (Saint-André), 25 km von U.L.F. von Osier. Peter Port-Combet nannte seinen ältesten Sohn Reymond…
5. Damals hatte Frankreich nur 20 Millionen Einwohner.
6. Diesen Bericht muss man mit jenem völlig identischen Bericht in Beziehung setzen, der davon erzählt, wie Bruno Cornacchiola nach der Erscheinung von Tre Fontane in Rom 1947 zu seiner Frau zurückkehrte.
7. Ein anderer Name, der den damaligen Calvinisten gegeben wurde.